AUSBILDUNG WINES & SPIRITS (WSET) TRINKEN

Santé! Die neue Art des Reisens – Teil 7

20. August 2013
Genuss sucht_Santé_Die neue Art des Reisens_Teil 7_2_4

Zuhause lernen geht mir auf den Keks. Ich habe keine Ruhe mehr und brauche dringend einen Tapetenwechsel. Da kommt der Anruf einer Freundin gerade recht. Sie will ein paar Tage Freunde im Rheinland besuchen. In einer Kurzschlussreaktion beschließe ich, mitzufahren und auch einen Lieblingsmenschen zu besuchen, einige hundert Kilometer von Hamburg entfernt. Das wird mir gut tun.

Selbstverständlich ist die Zeit bis zur Prüfung so knapp, dass ich mir eine Lernpause nicht gönnen kann. Und die Aktion ist so kurzfristig, dass meine Freundin dort natürlich auch arbeiten muss. Das ist alles egal, ich muss einfach nur raus und bin dankbar über eine andere Lernumgebung.

Zwei Tage später stehe ich abholbereit vor der Tür. Es ist früher Sonntagmorgen, mein nötigstes Reisegepäck besteht aus einem kleinen Koffer, einer schweren Laptop- und Weinbuchtasche mit allen Lernkarteikarten und Lehrmaterialien und – am Wichtigsten – einem 9er-Flaschenträger vollgepackt mit Weinflaschen. Schon in Hamburg schauen Passanten etwas irritiert. Erst auf mich, dann auf mein Gepäck, dann wieder auf mich. Zugegeben: es wirkt etwas befremdlich, das Gepäck-Arrangement, aus dem unverkennbar 9 Weinflaschenhälse herausragen, so um 8 Uhr am Sonntagmorgen. Ich grinse in mich hinein.

Im Rheinland angekommen merke ich, dass die Hamburger noch recht verständnisvoll waren. An einem McDonald’s Parkplatz abgesetzt warte ich, von meiner Freundin abgeholt zu werden, die gerade noch unterwegs ist und arbeitet, bevor sie mich einsammeln kann. Erschöpft von der langen, staureichen Fahrt überlege ich, einen Kaffee bei McDonald’s zu holen. Der Blick auf meine vollen Hände und den Weinträger verbietet es mir jedoch. Wer soviel guten Wein mit sich herumträgt, braucht keinen McDonald’s Kaffee, beschließe ich kurzum. Ich bin mit neun Geheimwaffen für jede Art von Schicksalsschlag oder Gelegenheit gewappnet.

Eine halbe Stunde später bin ich auch nicht mehr weit davon entfernt, eine dieser Geheimwaffen gegen die Stirn der bescheuert glotzenden Autofahrer, die aus dem Drive-in heraus an mir vorbei ziehen, zu donnern. Ihre Augen fallen jedes Mal fast heraus, wenn sie mich da so sehen, auf dem McDonald’s Pflasterstein sitzend, mit einem dicken Stapel Lernkarten in der Hand, umringt von Weinflaschen. Sie fahren in Zeitlupe, gaffen ungeniert, amüsieren sich, lenken mich ab – und gerade das regt mich so sehr auf, als würden sie über meine Kinder lachen. Kurz vor meinem Weinflaschen-Amoklauf rettet mich meine Freundin vor möglichen Gewaltausbrüchen. Ich und die Flaschen bekommen Obdach.

Genuss sucht_Santé_Die neue Art des Reisens_Teil 7_2Einige Tage verschanze ich mich. Während die Besuchte immer wieder für einige Stunden zu geschäftlichen Terminen los muss, besetze ich die Wohnung und habe ihre Weingläser im Dauergebrauch.

Ich schreibe knapp hundert neue Karteikarten voll mit Infos und Stichpunkten bevor endlich die ersehnte Mail vom Weincoach kommt. Der Grund, weshalb ich auch drei angebrochene Weinflaschen mitgenommen habe, denn das Feedback zu meinen Verkostungsnotizen stand noch aus und nach meiner Rückkehr wäre wohl nichts mehr von den Aromen übrig, sollte ich irgendwelche schwerwiegenden Fehler gemacht haben.

Der Weinallmächtige gibt Entwarnung. Meine zuletzt eingereichten Verkostungen waren in Ordnung, es gibt keine Anmerkungen geschweige denn Korrekturen. Er teilt mir mit, wo wir uns zur Prüfung treffen werden und plötzlich rückt der Termin noch näher als der Kalender es ohnehin schon verrät. Ich werde in einem Weinfachhandel meine Prüfung ablegen. Juhu! Außerdem, merkt er an, soll ich noch weitere Unterlagen im Online-Portal durcharbeiten und möglichst viel verkosten – auch alle Flaschen abseits der vorgegebenen Verkostungsliste.

Wenige Zeit später halte ich meine Nase wieder in den faszinierenden Chablis, den ich angebrochen mitgebracht hatte. Ich schmecke aufs Neue den Muschelkalk darin und gleich darauf den Champignon… er bringt mich abermals zum rätseln. Muschelkalk ja, aber noch nie habe ich in irgendeiner Weinbeschreibung von Champignons gelesen. Ist das real oder täuscht mich mein Hirn noch immer? All meine Bücher habe ich danach abgegraben, im Internet recherchiert, aber nie taucht der Champignon auf. Manchmal sprechen die Profis von Pilzen. Aber nein, es sind nicht irgendwelche Pilzre. Schließlich kenne ich mich aus in der Küche und weiß deshalb verdammtnocheinmal, dass das hier nicht einfach nach Pilzen riecht und schmeckt, sondern nach weißem Champignon. Kein anderer Pilz kommt in Frage. Der Duft erinnert mich an Duxelles, eine hell angeschwitzte Pilz-Schalotten-Butter-Mischung, abgelöscht mit Weißwein. Ihre perfekte Zubereitung war Teil einer Freitagsprüfung am Institut Paul Bocuse. Ich weiß, wovon ich im Champignon-Fall rede. Und schreibe es wagemutig in meine Verkostungsnotiz, Bücher hin oder her. Ich muss lernen mutiger zu sein mit dem, was ich schmecke, meiner Zunge nicht nur in der Küche, sondern auch bei diesem neuen Thema vollends zu vertrauen.

Genuss sucht_Santé_Die neue Art des Reisens_Teil 7_3Eine Flasche Bordeaux aus dem Médoc lehrt mich hingegen ganz andere Dinge. Er schmeckt mir nicht, der erste Schluck ist grauenhaft, der zweite nicht besser. Aber ich will ja professionell werden. Also muss ich da durch.

Ich konzentriere mich auf die Frucht, durchwühle mein Aromengedächtnis, wandere in Gedanken Märkte mit Früchten ab. Ich versuche mich damit vorbei zu bugsieren an dem Lederaroma, das mir entgegenschlägt. Würzige, kräftige, manchmal auch durchaus etwas streng anmutende Geschmäcker liegen mir oft, aber das hier ist nicht mein Fall.

Es braucht ein bisschen Überwindung, ein bisschen Austricksen meiner selbst, aber am Ende schaffe ich es tatsächlich, diesen seltsamen Kerl von einer anderen Seite kennenzulernen. Wir umarmen uns noch nicht innig, schütteln aber anständig und formal die Hände, als ich mich dem Chianti zuwende. Vielleicht sieht man sich mal wieder, auf einen zweiten Versuch, unter anderen Umständen.

Der Chianti überrascht mich. Was bislang oft nicht mein Favorit war, wenngleich immer trinkbar, entpuppt sich im heutigen Fall als echt gute Sache. Er ist erdbeerig, johannisbeerig, tomatig, etwas kirschig und die letzten Tropfen im Glas riechen nach getrockneter Tomate aus Sizilien. Wunderbar.

Die Tage vergehen im Nu. Ich lerne viel und stetig, wir reden über Wein, ich denke an nichts anderes als Wein und beginne stets gegen 11 Uhr mit den ersten Verkostungen. Da sind die Geschmacksnerven am agilsten, egal ob ich schon Lust auf Wein habe oder nicht. Es wird einfach gespuckt. Manchmal jedenfalls.

Wir kochen an den Abenden und trinken dazu. Wein natürlich, als Tagesausklang. Um zwei Uhr morgens gehe mit meinen Weinkarten ins Bett, will einige davon noch einmal wiederholen vor dem Tagesende, bin aber so erschöpft, dass ich mit den Karten in der Hand einschlafe. Ich wache nur noch einmal kurz auf, um das Licht auszumachen. Gute Nacht, Wein, bis morgen früh. Und dann träume ich von Weinbergen und Verkostungen in den Weinkellern Frankreichs.

Morgens versuche ich meine verknautschten Hirnwindungen mit Kaffee ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Mit ganz viel schwarzer Kaffee-Energie lerne ich Landkarten auswendig. Geografie war vorher nie meins. Es ist das erste Mal, dass mich Geografie interessiert. Manches Mal muss ich ein paar Eselsbrücken bauen um mir die Gebiete zu merken. Wie bei Pinot Noir in Neuseeland. Die Premium-Lagen Martinborough, Marlborough und Central Ottago wollen sich nicht im Kopf zu einer Gemeinschaft formieren. Also starre ich auf die Karte. Und baue eine Brücke.

Nord- und Südinsel Neuseelands sehen zusammen aus wie ein umgedrehter Cowboy-Stiefel. Also denke ich mir den Cowboy Martin aus, natürlich erinnert er mich an eine aus dem Kopf unlöschbare Tabak-Kampagne der 80er Jahre (oder waren es die 90er?). Ich stelle mir vor wie dieser Martin auf seinem Pferd rüber auf die Südinsel galoppiert, nach Marlborough. Die sieht, mit ein bisschen weinseligem Vorstellungsvermögen, auch aus wie ein Huf, das macht die Geschichte rund. So rund wie das O von Central Ottago. Na also, geht doch. Nun gut, ich phantasiere ein bisschen. Aber wen überrascht das schon bei soviel Wein?

Von morgens bis abends bestimmt das Thema meinen Tagesablauf. Selbst auf der U-Bahn-Anzeige lese ich im Vorbeifahren Rebsortennamen, schüttele kurz den Kopf und wundere mich über dieses seltsame Hirn. Ich bin unterwegs mit Weintunnelblick. Verrückte Welt.

Und dann kommt der Tag der Rückreise in meinen Hamburg-Lernalltag. Statt der geplanten Abfahrt um 9 Uhr werde ich doch erst über eine Stunde später abgeholt. Das lässt genug Raum, um sich noch vor dem Aufwach-Kaffee ein paar Karteikarten anzusehen. Ich beantworte gleich die ersten 10 Karten richtig und fühle mich spontan ganz großartig. Bei Kaffee und Frühstück fragt meine Frühstücksfreundin mich testweise ab. Die klassischen Herkünfte und die Premium-Gebiete der wichtigsten Rebsorten, bitte. Einmal alle durch.

Wie sollte es auch anders sein, stottere ich gleich beim ersten Vorführ-Beispiel und mir fallen partout von 5 Premium-Regionen nur 2 ein. Grr. Ärger macht sich breit, der Triumph über die zufälligen ersten 10 Karten ist vergessen. Als ich alle Rebsorten zur Gedächtnisstütze auf ein Papier kritzele, fallen sie mir wieder ein. Puh. In der Prüfung sollte das schneller und zielsicherer geschehen. Ich muss mehr Gas geben.

Genuss sucht_Santé_Die neue Art des Reisens_Teil 7_1Als ich von meiner Hamburg-Connection abgeholt werde, habe ich längst die Weißwein-Reste aus dem Kühlschrank geholt und meinen 9er-Weinträger mit einer Ausnahmelücke wieder gefüllt. Das Feedback der 4 zuletzt verkosteten Weine ist noch nicht da und somit trage ich die winzig zurückgehaltenen Reste davon nun wieder nach Hause. Alle feinsäuberlich mit ihrem Korken wieder verschlossen.

Die neue Art des Reisens, mit schmückendem Weintäschlein, scheint mir plötzlich nicht mehr so absurd wie zum Zeitpunkt der Abreise aus Hamburg ein paar Tage zuvor. Andere Menschen haben einen Talisman, ich habe Wein. Ganz schön fantastisches Leben eigentlich.

Stunden später betrete ich meine Wohnung. Es war ein heißer, anstrengender, Gewitter- und regenwolkendurchzogener Reisetag. Ich brauche ein Nickerchen, obwohl ich heute keinen einzigen Wein verkostet habe und seit dem Frühstückskaffee keinen weiteren Blick in meine Lernmaterialien geworfen habe. Ein Tag Zeitverlust. Reicht mir denn die verbliebene Zeit? Kurzes Flaugefühl in der Magengegend.

Morgen ist ein Tag völlig ohne Verpflichtungen. Dann kann und muss ich wieder aufholen. So ticke ich, auf den letzten Drücker hole ich immer das Beste raus. Und diesmal mache ich da sicher keine Ausnahme.

Beim Einsammeln eines beim Nachbar abgegebenen Pakets am Abend wird mir schnell klar womit ich meinen verpflichtungslosen Tag verbringen werde: Es ist ein Paket von Jacques. YAY! Nachschub für die vormittägliche Verkostungsrunde. So macht das Leben und Lernen Spaß. Nun habe ich endlich einen Grund, den Tag lernfrei zu beenden: Ab ins Bett, ihr Geschmacksnerven. Ihr müsst schlafen, ruhen, von allerlei roten und grünen Früchten, von Tanninen und anderen Aromen träumen.

You Might Also Like

No Comments

Leave a Reply

Ausrechnen, eintippen und dann absenden. * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.

Genuss bringt Menschen zusammen.
Du willst mehr kulinarische Anekdoten und Rezepte? Dann trage dich für den Newsletter ein. Als Dankeschön erhältst du ein RECETTE DU WEEK-END mit allen Genussextras.