Es gibt wenige Gerichte, die ich immer und zu jedem Zeitpunkt essen mag. Denn eigentlich bin ich eine intensiv stimmungsgeprägte Genießerin, die weder den nächsten Wocheneinkauf strikt nach Rezeptplan strukturieren noch den nächsten Tag bestimmen kann. Meine Launen kommen und gehen mit der Inspiration, die sich vor meinen Augen zu Genussvorhaben manifestiert. Einige Ausnahmen, die nicht dem stetigen Appetitwechsel unterlegen sind, gibt es jedoch. Eine davon ist frisches Tartare de Boeuf – den meisten wohl eher als Rindertatar geläufig, in Frankreich auch öfter als Steak Tartare oder Filet Américaine angeboten. Vom Norden Frankreichs bis in den Süden ist es nahezu flächendeckend verbreitet und hat auch in vielen Ländern der Welt Ruhm erlangt.
Gehackt, nicht gequetscht
Die Kunst des guten Tartares beginnt beim Hauptbestandteil: dem Fleisch. Das Tartare (ich weigere mich konsequent gegen die deutsche Schreibweise Tatar, die soviel mehr nach Kindersprache klingt), das an vielen Theken deutscher Metzgereien erhältlich ist, wird meist durch die feineren Scheiben des Fleischwolfs gedreht und gleicht einem sehr feinen Hackfleisch, weshalb hat sich auch vielerorts die Bezeichnung Beefsteakhack durchgesetzt hat.
Eigentlich soll es aber gar nicht durch den Wolf gequetscht, sondern sanft mit einem Messer gehackt oder geschabt werden. Daher wird das Tartare auch Schabefleisch genannt. Magere, fettfreie Stücke vom Rind werden hierzu verwendet, die nicht von Sehnen durchzogen sind und eine feine, zarte Struktur haben. Während im internationalen Bild eher das fein geschabte Fleisch bekannt ist, wird in Frankreich viel öfter die rustikalere Variante aus grob gehackten Fleischstücken angeboten. Und das hat einen Grund: man sieht die Beschaffenheit des Fleisches und das ist ein untrügliches Zurschaustellen der Qualität und absoluten Frische. Denn durch das Quetschen im Wolf wird das Fleisch immer leicht erhitzt und verändert seinen Geschmack und seine Textur.
Ich persönlich präferiere auch die größeren Stücke – nicht nur wegen der qualitativen Aspekte, sondern auch weil ich sie ehrlicher und in ihrer Kautextur interessanter finde. Fein geschabt möchte ich das Tartare lieber auf ein Brot streichen, ähnlich dem urdeutschen Mettbrötchen. Aber in gröberen Stücken liegt das Geschmackserlebnis weit entfernt von Gedanken an ein belegtes Brötchen, strahlt zugleich Rustikalität und Noblesse aus und avanciert zu einem vollständigen Gericht.
Die Grundlage eines jeden guten Tartares ist das Fleisch. Es ist stets die erste Frage, die der Ober beantworten muss. Erst wenn die eindeutige Zusage erfolgt, dass es in Stücke geschnitten serviert wird, denke ich über den nächsten elementaren Faktor nach: die Würzung.
Tartare à la maison
Oftmals bekommt man ein Tartare à la maison – nach Art des Chefs vorgewürzt – bereits angemacht und fertig angerichtet. Das kann, je nach Chef und Tartare-Sachverstand, großartig oder bedauernswert sein. Im besten Fall kommt ein harmonisch gewürztes Tartare auf den Tisch und bezaubert mit perfekt abgestimmter, feinwürziger Note, die dem Fleisch eine geschmackliche Dimension hinzufügt, ohne das Eigenaroma und den Charakter des Rinds zu überdecken oder gar zu verfälschen. Im schlimmsten Fall sitzt man vor einer überwürzten, pampigen Anrichtung, die man nach einem ersten Happs vor lauter Disharmonie beiseite schiebt – beispielsweise von zu starkem Senfanteil, zu überschwenglichem Kaperneinsatz, ausgerutschtem Salz- oder Pfefferfinger oder gar eigenwilliger Würzelemente, die in einem klassischen Tartare nichts verloren haben. Ich hatte schon einige solcher Ausrutscher auf dem Teller.
Tartare ist so einfach und doch so kompliziert. Seine Großartigkeit steht und fällt mit den richtigen Zutaten und ihrer Qualität.
Tartare in Zutaten zerlegt
Meist wird es lieber dem Gast überlassen, sein eigenes Geschmackserlebnis ganz nach persönlicher Vorliebe zusammen zu zimmern. Dann werden auf einem Teller die einzelnen Bausteine für diese Großartigkeit angeliefert, die man am Tisch kunstvoll zusammendrapiert. Feingehackte Schalotten, manchmal ein bisschen frischer Knoblauch, ein glänzendes Eigelb, leuchtend grüne Kapern, gehacktes Schnittlauch und etwas Petersilie, etwas Olivenöl, in seltenen luxuriöseren Fällen ein paar Anchovis, die auf keinen Fall durch Salzigkeit hervorstechen dürfen, immer aber frisch gemahlener, schwarzer Pfeffer, Fleur de Sel, bester mild-aromatischer Senf, ein Löffelchen würziges Ketchup oder Tabasco und einige Cornichons.
Dann beginnt das Kreieren und der persönliche Spielraum. Meine Lieblingsvariante sieht so aus: ich streue ein wenig Salz über das Fleisch, tupfe etwas Senf und einen noch kleineren Tupfer Ketchup darauf, vermische die Würze, verteile und drücke sie leicht in den Fleischwürfeln. Dann packe ich einige Kapern dazu, zerdrücke an der Seite des Tellers ein oder zwei Anchovis, deren Brei anschließend zu den Kapern kommt, breche ein Stück Weißbrot ab und halte es fortan in einer Hand, bereit zum Einsatz. Erst dann bugsiere das Eigelb vorsichtig obenauf und schreite zum großen Akt.
Wie man Tartare isst – eine Inspiration
Mit der Gabel steche ich das Eigelb an und sehe mit Wonne zu, wie es langsam über das Fleisch läuft. Sollte es planlos davonlaufen, wische ich das köstliche Gelborange schnell mit dem Stück Brot auf, das ich für diesen Notfall in meiner Hand bereithielt, schiebe es sanft zurück zu den Rinderstückchen und esse das Brot als Appetizer. Und dann riesele ich noch etwas Fleur de Sel obenauf und fange an das Tartare zu genießen, umhüllt vom köstlichen flüssigen Eigelb, durchdrungen von der fruchtigen Salzigkeit der Kapern und Anchovis, mit intensiv nussigem Rindfleischgeschmack, feinsenfig und würzig vom Nachhall des schwarzen Pfeffers eingebunden. Die Aromaten sollten in diesem Auftritt nicht dominant sein, der cremige Anteil von Senf und Ketchup nur gering. Der Star ist das Fleisch, alle anderen Elemente sind nur Nebendarsteller.
Im Bistro in Paris
Der Gedanke an ein Tartare de Boeuf hat sich tief in meinem Genussgedächtnis mit eindeutiger Kulisse verbunden. Ich sitze in einem undefinierten Bistro einer mondänen Metropole, werde von schwarz-weiß gekleideten Obern aufmerksam wie freundlich bedient, habe ein Notizbuch neben mir liegen, in das ich kurze Gedanken notiere, während ein Glas Mittagswein lustig schwankend auf dem Tablett zu meinem Tisch balanciert wird. Ich schaue auf belebte Straßen, kritzele hier und da etwas nieder, versinke in Gedanken bis das Tartare de Boeuf den Tisch erreicht. Danach weicht meine Konzentration nicht mehr vom Teller.
Ich würze und baue, kreiere und verbinde, zelebriere. Mittagsauszeit im Kopf. Den Rest der Welt bemerke ich, vorausgesetzt es war ein gutes Tartare, erst wieder, wenn alles verspeist ist. Ich verharre noch einige Minuten im Nachklang des Rindfleischgeschmacks bevor ich die letzten Schlucke des Weins hinunterspüle, mein Notizbuch zusammenklappe, den Ober rufe, mich bedanke und die Rechnung begleiche, Trinkgeld auf den Tisch lege und durch eine knarrende Tür hindurch aus der Stille zurück in das Gewusel des Tages und der Großstadt trete. Diese Szenerie ist zigfach erprobt und durchlebt und deshalb unauslöschlich mit dem Tartare Erlebnis zusammengeschweißt.
In einem mir noch unbekannten Restaurant, das auf der Karte Steak Tartare offeriert, wandern meine Blicke vor der Bestellung meist wild umher. Ich inspiziere Sauberkeit, Service, blicke forschend auf fremde Teller und andere Speisen. Schließlich ist Tartare ein Gericht, das unter penibler Sauberkeit und absolut frisch zubereitet sein muss. So, wie ich nicht jedem Sushi Restaurant über den Weg traue, bin ich auch hier vorsichtig.
Freund oder Feind – das Tartare entscheidet
Ein Tartare de Boeuf zu bestellen ist ein erstes kleines Lob an den Ort, an dem ich esse. Vorschusslorbeeren sozusagen. Kaum habe ich bestellt, beginnen bange Minuten: eine Mischung aus großer Vorfreude, reuevollen Gedanken, ob ich die richtige Wahl getroffen habe und skeptischen Befürchtungen, der bald eintreffende Teller könne vielleicht doch in exorbitanter Scheußlichkeit oder falsche Würzung meine Tartare-Liebe vielleicht ein für alle Zeit zunichte machen.
Wer mich nach diesen bangen Minuten mit einem guten Tartare belohnt – handgehackt und in bester Qualität – der wird mein Freund. Dann komme ich wieder und wieder. Oder träume vom Wiederkommen, wenn ich gerade nicht in der Nähe bin und es mir nach einem Tartare de Boeuf gelüstet.
Vive la France et les Gourmandises Françaises!
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