Mir läuft das Wasser zusammen, wenn ich nur an ein einziges, unschuldiges Stück davon denke – denn von allen Süßigkeiten, die ich als Kind geliebt habe, sind Guimauves eine der wenigen, die ich auch als Erwachsene noch bedingungslos vergöttere.
Marshmellows aus dem Supermarkt waren, zu damaligen Zeiten noch unter dem Namen „Mäusespeck“ heißgeliebt, die wunderbarste Belohnung und Krönung meiner Kindheitstage. Wenn meine Mutter sie nach Hause brachte, flippten mein Bruder und ich schier aus und trugen den kostbaren Naschbeutel den ganzen Nachmittag lang mit uns durchs Haus, damit bloß keiner auch nur ein einziges Stück daraus entwenden konnte. Rosa-weiß gemustert liebte sie mein Bruder, ganz weiß liebte ich sie am meisten.
Ich war vernarrt in die weiche Fluffigkeit, das dichtschaumige Mundgefühl, die sanfte Vanillinwolke, die daraus hervorströmte. Kaum waren sie ein, zwei Tage alt, mochte ich sie nicht mehr essen, weil sie nicht mehr fluffig genug waren, ihre Frische eingebüßt und an Zähigkeit gewonnen hatten. Ich war ein wählerischer Marshmellowfan, so wie ich auch immer ein äußerst kritischer Schaumkussgenießer war. Schaumware musste frisch und luftig, cremig und wolkenähnlich sein. Ich träumte davon in einer solchen Wolke zu leben, zu schlafen, zu spielen, zu träumen, zu schweben. Sobald nach einigen Tagen mit Luftkontakt die zäher werdende Klebrigkeit einsetzte war es aber vorbei mit den Schaumwolkenträumchen.
Als ich älter wurde verlor ich deshalb die kleinen Texturwolken etwas aus dem Sinn. Zu schnäubisch war ich mittlerweile in meinen pubertärkulinarischen Ansprüchen geworden und zu oft hatten mich im Supermarkt zähe, fast schon gummiartige Tüten Mäusespeck negativ überrascht. Es gab andere Prioritäten in meinem Leben und andere Süßigkeiten, die es auf meiner Favoritenliste weiter nach oben geschafft hatten. Nur sehr selten hatte ich das Glück wirklich frische Marshmellows zu bekommen, die nicht mit diesem alles überdeckenden künstlichen Erdbeeraroma versehen waren. Viele Jahre später erst, ich hatte gerade die französische Küche mit ihren feinen Aromen und zarten Texturen für mich entdeckt, sollte der Augenblick kommen, in welchem meine Marshmellow-Leidenschaft neue Gipfel erklimmen würde.
Als der Tag kam, war ich weder vorbereitet noch hatte ich ein solches Erlebnis erhofft oder vermutet. Ich hatte ein kleines, feines Menü in einem französischen Restaurant verspeist und gerade eben einen Kaffee als Abschluss bestellt. Man hörte noch die Espressomaschine im Hintergrund schnaufen, als auf einem kleinen Tellerchen eine bunt zusammengestellte Mischung unterschiedlichster Köstlichkeiten herangetragen wurde. Es handelte sich um einen klassischen Petit Fours Teller, wie er in der gehobenen französischen Gastronomie oft als Abschluss eines Menüs gereicht wird. Einige Kleinigkeiten als süße Begleitung eines Menüausklangs. Der Chef Pâtissier des Restaurants hatte sich viel Mühe gegeben, meine geheimen Fantasien zu erfüllen. Auf dem Teller für zwei lagen konfierte Zitronenstäbchen in Schokolade, kandierte Ingewerwürfel, Miniaturpralinen und zwei dicke, blassweiße Würfel Guimauves in feinen Puderzuckerstaub gehüllt.
Ich biss in das schaumige Quadrat hinein dessen Größe meinen ganzen Mundraum ausfüllte und eine so zarte und auf der Zunge schmelzende Konsistenz hatte, dass ich mich unmittelbar im Marshmellow-Himmel wähnte. Orangenblütenschwaden durchzogen zuerst meine Nase, breiteten sich dann in meinem Kopf aus, benebelten meine Gedanken, krochen bis in die Fingerspitzen und den letzten Winkel meines Unterbewusstseins. Langsam und bedächtig schmolzen die Wattebäusche aus zuckrigem Eiweißschaum dahin, ich traute mich weder zu kauen noch zu atmen, weil ich den Moment möglichst lange zu bewahren versuchte. Erst als das Geschmacksschauspiel zu Ende war, wurde mir bewusst, dass ich soeben den perfekten Marshmellow gegessen hatte. Er trug den verheißungsvollen Namen Guimauves.
Seitdem hat sich mein Sprachgebrauch in dieser Hinsicht maßgeblich geändert. Einerseits gibt es da Marshmellows, die industrielle Massenware, getrieben von künstlichen Aromen, oft auch Farbstoffen und Stabilisierungsstoffen, die das Schäumchen monatelang genießbar halten sollen. Andererseits gibt es Guimauves: das handwerkliche und künstlerische Gegenstück, das nicht nur beim Aussprechen seines Namens einen besonders raffinierten Klang besitzt, sondern auch beim Genießen alle Sinne zum Schwingen bringt.
In Frankreich sind Guimauves keineswegs nur Kindersüßkram. Vielmehr werden sie als süße Delikatesse verehrt und finden deshalb fast immer ihren Weg auf die Petit Four Teller der Spitzengastronomie. In anspruchsvoller handwerklicher Zubereitung werden sie mit Eiweißschnee, Zucker und Gelatine sowie edlen Zutaten wie Rosenwasser oder Orangenblütenwasser zu einer feinen Schaumwolke veredelt. Manches Mal werden sie mit Fruchtmus aromatisiert und eingefärbt, von Beerengeschmack über Mango und Passionsfrucht bis hin zu Minze lässt sich Vieles erleben. Man findet sie in allen möglichen geschmacklichen Nuancen, mal einfach in Quadrate geschnitten, manchmal auch aus einzelnen Strängen zu kunstvollen Zöpfen geflochten.
Meine Favoriten sind die feinparfümierten Guimauves mit Orangenblüten- oder Rosenwasser. Sie sind in Eleganz, Raffinesse und Geschmackserlebnis so süchtigmachend, dass ich dafür so einige Opfer bringe. Gerne tausche ich mit meiner Begleitung andere Petit Fours gegen deren Guimauves, wenn sie wirklich gelungen sind.
Wer einmal im Leben die perfekt schaumig-luftige Konsistenz genießen durfte, der wird nie wieder Spaß an anderen Marshmellows haben. Meist sieht man ihnen im Anschnitt schon an, ob sie fabulös oder nichtssagend sind. Große Luftlöcher und grobporige Struktur sprechen mich meist nicht sonderlich an, sie sind in der Regel klebriger und zuckriger, mit weniger Eiweißschaum und viel Glukosesirup hergestellt. Persönlich bevorzuge ich eher die feinschaumigen Würfel mit dichter Masse, die ausschließliche feine, gleichmäßige Luftbläscheneinschlüsse haben.
Ich zahle gerne einige Euro mehr für gute Guimauves, oder stelle ab und an auch selbst ein Blech davon her, das ich in einem Gemisch aus Puderzucker und Speisestärke wälze, damit sie nicht miteinander verkleben. Leicht gekühlt bleiben sie dann eine gute Woche so feinschaumig, wie es sich gehört. Aber meist muss ich mir ohnehin keine Gedanken um die Lagerung machen: die Guimauves sind schneller weggenascht und verschenkt als man denkt. Das wirklich Gute kann so einfach sein.
Vive la France et les Gourmandises Françaises!
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