Kindheit ist oft in einigen Lieblingsgerichten aufzuzählen. Generationsbedingt haben sich diese Wohlfühlessen natürlich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und manchmal etwas verändert oder einfach dem Zeitgeist angepasst. Wir alle hatten Lieblingsspeisen, als wir noch kurze Menschen waren. Vielleicht liebten wir Nudeln mit Tomatensauce über alles, oder Kartoffelsalate, bettelten unablässig unsere Eltern an, damit es endlich mal wieder Schnitzel mit Bratkartoffeln oder Kartoffelpüree mit Frikadellen gab, der Ausflug bei einer Fast-Food-Kette endete, damit wir Pommes in süß-saure Saucen tunken konnten. Mit flehenden Augen beknieten wir unsere Großeltern, endlich mal wieder die tollen Reibekuchen zu machen, ihr Pfannkuchen-Rezept aus dem Schrank zu holen, arme Ritter mit einer dicken Zuckerschicht zu bedecken oder den glücklich machenden Sonntagsrührkuchen in den Ofen zu schieben.
Wenn man uns fragte, was wir uns zum Abendessen wünschten, gab es in der Regel zwei bis drei Standard-Antworten, die wir an jedem Tag und zu jeder Tages-oder Nachtzeit zu essen bereit waren. Die Gurkenscheibe auf dem Pausenbrot hingegen nahmen wir lieber jeden Tag aufs Neue vom Brot und entsorgten sie feinsäuberlich im Mülleimer, bevor ihre Vitamine noch unseren Verstand vergiften konnten. Oder wir brachten sie, wenn die Frustration über die jahrelange Gemüsefolterung besonders groß war, einfach postwendend in der sonst leeren Tupperdose mit nach Hause, als Zeichen unseres Protestes. Wir feilschten um Puddingportionen, als handele es sich dabei um Gold, liebten Grießbrei und verachteten Milchreis – oder auch anders herum – und versuchten mit großem Willen unsere Eltern endlich davon zu überzeugen, dass eine kulinarisch monothematische Welt mit viel Zucker und Fett unser wirklich einziger, absoluter, zeitlos perfekter Lieblingsort wäre – manche mit mehr, andere mit weniger Erfolg.
Neben vielen universellen Kindergerichten, die noch heute den Familienalltag vieler Eltern bestimmen, von Nudeln mit Tomatensauce über Hamburger, Würstchen und Pommes bis hin zu Milchreis, gibt es in jeder Erinnerung Gerichte, die regionalen oder familiären Gepflogenheiten unterworfen waren. Eine ganze Nachkriegsgeneration wurde von der Kriegsgeneration mit einfachen Süßspeisen wie Armen Rittern und Kirschenmicheln, rustikalen Eintöpfen und reichhaltigen Kartoffelgerichten verwöhnt, die oft aus Resten zusammengeworfen waren und in damaligen Zeiten zwar keinen Luxus, aber doch seltenen Genuss versprachen und die Gerichte besonders deshalb zu etwas Besonderem machten. Erst in der Erziehungsphase der verwöhnten Generation erweiterten sich wieder Lebensmittelverfügbarkeiten, eröffneten sich neue Transport- und Handelswege, wuchs die Lust auf das Experimentieren und die Individualisierung.
Ich wuchs mit einem Großvater auf, der eine Zutat als sein einziges Lebenselexier verstand und gerne auf die große Welt des Würzens verzichtete, wenn er an jedes Gericht nur eine Unmenge dessen geben konnte: Essig. Unverfälschter, hochkonzentrierter Essig. In der Gewürzpalette meiner Großeltern gab es neben diesem Universaltalent nur noch Salz, Pfeffer, Zwiebeln und in Ausnahmefällen manchmal Rosenpaprika oder ein paar Kräuter. Der Rest des Geschmacks fiel in den Verantwortungsbereich des Produkts, das mit diesen Zutaten in Berührung kam.
Als eingefleischter Obst-und Gemüsehändler mit eigenem Stand mitten in einem alteingesessenen Frankfurter Stadtteil, traute mein Opa Obst und Gemüse eine ganze Menge zu, weil er es schließlich morgens selbst in der Großmarkthalle aussuchte und nur die beste verfügbare Qualität überhaupt mit an den kleinen Stand und auch mit nach Hause nahm.
Der Essig war omnipräsent im Familiengeschen und umspülte allerlei Gerichte. Oft schimpfte meine Oma mit meinem Opa, wenn er wieder lachend den bettelnden Enkelkindern einige zusätzliche Spritzer Essig über das fertige Gericht goß, weil wir schon längst an diesen Geschmack gewohnt waren und den Essig fast so sehr liebten wie unseren Großvater selbst. Meine Großeltern legten dabei stets großen Wert auf kräftigen Essig. Im Vorratsschrank ging der Kanister mit Essigessenz nie aus, zusätzlich wurden riesige Flaschen Rot- und Weißweinessig aus dem Großhandelsmarkt bevorratet. Der essigreiche Kartoffelsalat, der sonst nur neutrales Öl, etwas Fleischbrühe sowie Salz, Pfeffer und Zwiebelwürfel zu Gesicht bekam, stand auf der Geburtstagsmitbringsel-Wunschliste noch weit vor der Geburtstags-Sahnetorte. Eine große Schüssel sollte es immer sein. So groß, dass nicht nur alle Gäste davon satt werden konnten, sondern auch noch reichlich über blieb für den Tag danach – und in Glücksfällen auch noch den Tag nach dem Tag danach. Wir liebten diesen Essig-Kartoffelsalat ohne jegliches Beiwerk, es brauchte weder Würstchen noch Steak oder sonstige vermeintliche Hauptspeise. Kartoffelsalat am Morgen, zu Mittag, am Abend – traumhafter konnte ein Tag für uns kaum sein. Nur eine einzige mögliche Krönung gab es für dieses kaiserliche Festmahl: eine Portion Ketchup obendrauf. Rot – und ebenso essighaltig wie der Kartoffelsalat selbst. Die Aufteilung letzter Reste aus der heiligen Kartoffelsalatschüssel gipfelte so gut wie immer in geschwisterlichem Teilungsstreit. Der Essig raubte uns die Sinne.
Abseits zahlreicher mit sehr essighaltigen Dressings versehener Salate fällt mir in der Essig-Lieblingsliste immer sofort noch der Linseneintopf ein. Ein kräftiger Eintopf aus braunen Linsen, Kartoffel- und Karottenstücken, samtig-stückig gekocht in Brühe, für mich am liebsten ganz ohne Speck, nur in seltenen Ausnahmen mal mit einem knackigen GANZEN Frankfurter Würstchen, auf das ich aber lieber verzichte. In die Teller dieses Eintopfs gossen wir am Esstisch eßlöffelweise starken Essig herein, noch bevor wir nur einmal probiert hatten. Ich erinnere mich, wie ich als Kind gerne nur sehr flüchtig umrührte, nur eine schnelle Runde mit dem Löffel durch den dampfenden Teller um den Essig möglichst wenig zu verteilen und dafür mit jedem Löffel Suppe eine kleine, separierte Pfütze Essig in meinem Mund zu schieben, deren Geschmack sich erst dort so wunderbar mit der Suppe verband. Ich liebte Linsensuppe wirklich sehr. Vor allem wegen der Menge an Essig, die man in ihr versenken konnte.
Natürlich neige ich heute nicht mehr so stark zu extremen Essiganwandlungen und anderen extremen Geschmäckern, wie ich es über die Jahre meiner kulinarischen Selbstfindung hinweg tat. Trotzdem liebe ich den Essig noch immer mehr als es wohl die meisten Menschen tun. Ein Spritzer mehr, ein Spritzer zuviel, oder gleich zwei zuviel, so habe ich es am liebsten. Weil es eben immer so war, früher als Kind. Genau aus dieser familiären Erinnerung heraus gibt es grundsätzlich auch nur 2 Dinge an die ich denke, wenn mein Blick im Vorratsschrank auf Linsen fällt. Die Assoziationskette bewegt sich dann stets zwischen „rote Linse – Koskosmilch“ oder „dunkle Linse – Essig“. Als ich letzte Woche in besagten Schrank schaute, fiel mir ohne Zutun ein Paket Linsen entgegen – die wunderbar feste und geschmacksintensive Puy-Linse. Sie wollte also gegessen werden. Ein Blick aus dem Fenster vernichtete jedoch jeglichen Suppengedanken, schließlich waren es 28 Grad und die Luft schwül-warm und gewitterschwanger. Schnell funkte deshalb ein erfrischend-kühler Gedanke an einen sommerlichen Linsensalat dazwischen. Eine flüchtige Erinnerung an ein ähnliches Rezept von Yottam Ottolenghi, das ich vor einiger Zeit schon einmal gekocht hatte. Einige Tomaten hatte ich glücklicherweise auch noch zuviel im Kühlschrank. Ein Plan war geboren. Und ein verdammt guter dazu.
PUY-LINSEN-SALAT MIT OFENGETROCKNETEN TOMATEN
Für die halbgetrockneten Tomaten:
400 g Eiertomaten oder andere festfleischige Tomaten
2 Zweige Rosmarin
einige Zweige Thymian
2 Knoblauchzehen
3 EL guter, alter Balsamico-Essig
3 EL Olivenöl
Für den Salat:
1 rote Zwiebel
2 EL Rotweinessig
200 g Puy-Linsen
½ Bund Kerbel
½ Bund Dill
½ Bund Schnittlauch
1 Knoblauchzehe
1 Büffelmozzarella guter Qualität
3 EL Olivenöl
4 EL alter Balsamico
Salz, Pfeffer
Vorbereitung:
Tomaten waschen und längs in Viertel schneiden. Knoblauch schälen und in feine Scheiben schneiden. Rosmarinnadeln und Thymianblätter von den Zweigen zupfen, sehr fein hacken und beiseite stellen. Tomatenviertel mit der Hautseite nach unten auf einem mit Backpapier ausgelegten Blech verteilen, leicht salzen und mit dem feingehackten Rosmarin und Thymian bestreuen. Jeweils 1 Scheibe Knoblauch auf jede Tomatenscheibe geben und dann mit einigen Tropfen Balsamico (am besten einen Teelöffel zur Hilfe nehmen) benetzen. Am Ende je ca. 2 bis 3 Tropfen Olivenöl auf jeder Scheibe verteilen und bei 120Grad Ober-/Unterhitze im Ofen bei leicht geöffneter Ofentür ca. 1,5 Stunden halb durchtrocknen lassen (Tipp: am besten einen hölzernen Kochlöffel einklemmen, sodass die Ofentür einen Spalt geöffnet bleibt und die Feuchtigkeit entweichen kann, so trocknen sie schneller). Am Ende sollen die Tomaten, wie schon in diesem Burger-Rezept mit Mini-Tomaten beschrieben) nicht komplett durchgetrocknet, sondern nur halbgetrocknet sein, sodass sich ihr Aroma konzentriert hat, sie aber trotzdem noch etwas weich sind.
In der Zwischenzeit Linsen nach Packungsanleitung (ca. 20 – 25 Minuten) in Wasser bissfest kochen und abgießen. Zwiebel schälen und in sehr feine Ringe schneiden (ggf. einen Hobel auf dünner Stufe zur Hilfe nehmen). Kerbel, Dill und Schnittlauch hacken und beiseite stellen.
Und so wird’s gemacht:
Feine Zwiebelstreifen in eine große Salatschüssel geben und ca. 2 EL Rotweinessig und 1 – 2 ordentliche Prisen Salz darauf geben, sodass sie gerade bedeckt sind. Einige Minuten durchziehen lassen (mindestens 5). Dann die noch warmen Linsen dazugeben, Olivenöl unterrühren und die Knoblauchzehe hineinpressen. Umrühren und etwas abkühlen lassen. Dann den alten Balsamico hinzufügen, die gehackten Kräuter (Kerbel, Dill und Schnittlauch) gut unterheben und je nach Wunsch noch mit einigen Tropfen Rotweinessig oder etwas mehr Balsamico abschmecken. Auf Tellern anrichten und mit einigen Stücken zerissenen Büffelmozzarellas und einigen ofengetrockneten Tomatenscheiben bestreuen.
5 Comments
Ein schöner Artikel und die Bilder sind ja der Hammer! Da will man sich gleich an den Herd stellen und kochen 😉
Liebe Grüße
Vielen Dank, Aaron! Ich wünsche Dir gutes Gelingen am Herd 🙂
[…] Tomate gepaart kann ich mich tagelang von ihr ernähren (Das GenussSucht Rezept dazu findet ihr hier). Mit etwas Kalbsjus und gut gewürzt mausert sie sich zur Begleitung von gebratenem Lachs oder […]
ich teile deine essig(vor)liebe, allerdings ohne familiäre vorbilder. meine mama hasst es, wenn er vorschmeckt 😉
Oh, das freut mich aber besonders, dass es auch noch andere Essig-Verrückte gibt außer mir. Ich hielt mich deswegen lange für eine niedere Gattung des sonst kulinarisch interessierten Teils der Menschheit 🙂 Es lebe der Essig!