Der Genussdezember endete mit einem großen Knall und darauf folgte lange Stille. Als ich euch am Morgen des 24. Dezember letztmalig schrieb, hatte ich längst Fieber. Was darauf folgte kam unerwartet, ungewünscht und entsprach so gar nicht meinen Genussdezember Plänen. Noch vor dem Weihnachtsabend streckte mich ein fieser, gemeiner Virus restlos nieder. Ich fieberte so hochgradig, dass alle Weihnachtsgäste wieder ausgeladen werden mussten. Ab da umgab mich nur noch große Stille, als wäre meine Welt plötzlich in Watte gepackt. Weihnachten musste ausfallen.
Sowohl die Weihnachtstage als auch die darauf folgenden Tage verbrachte ich nahezu vollständig im Fieberschlaf. Während die eingekauften Leckereien und vorbereiteten Menübestandteile im Kühlschrank vor sich hin dümpelten und ihren Zenit überschritten, war ich nicht einmal fähig mir eine Scheibe Brot zu schneiden. 5 Tage lang lebte ich ausschließlich von Tee mit Honig und drei letzten vorrätigen Bio-Hühnerbrühewürfeln. Schon das Füttern der Katze war so anstrengend, dass ich anschließend wieder mindestens eine Stunde schlafen musste bevor ich Tee kochen konnte.
Was ich im Genussdezember Tag für Tag predigte, selbst aber durch vor Weihnachten kurzfristig hereinplatzende Projekte nicht so konsequent einhalten konnte wie ich es mir vorgenommen hatte, zollte nun seinen Tribut. Mein Körper sah sich genötigt die Alarmglocken zu läuten wenn ich die lang ersehnte Ruhe nicht freiwillig herstellen konnte. Er zwang mir strikte Ruhe auf und ließ mir nicht eine einzige Möglichkeit mich irgendwie zu betätigen. Zwei endlos wirkende Wochen lang geißelte er mich mit der letzten Lektion des Jahres ans Bett und flüsterte mir nonstop ins Ohr:
Nur aus der Ruhe wächst neue Kraft.
Ich konnte nicht schmecken, nicht riechen und mit einsetzender Mittelohrentzündung auch nicht mehr richtig hören. Meine Sinne verabschiedeten sich in die Jahresendkontemplation und ließen mir viel Zeit über sie nachzudenken.
Das Schmecken und Riechen ist in den letzten Jahren zu meinem Lebensinhalt geworden. Sie sind die essenziellen Sinne meines Repertoires, das unabkömmliche Handwerkszeug für meine Leidenschaften, die größte Freude in meinem heutigen Joballtag. Tag um Tag, Woche um Woche zeigen diese beiden Wahrnehmungsdimensionen mir die kleinen wie auch großen Wunder meiner Welt. Nichts zu riechen und nichts zu schmecken gleicht einer Höchststrafe. Sie brauchten eine Pause, aber ich wollte ihnen einfach nicht zuhören. Man gibt eben ungern her, was man lieb gewonnen hat.
Also versagten die Sinne zwei Wochen lang ihren Dienst und streikten schmollend.
Als kurz vor Silvester endlich moralische Unterstützung anreiste, die mich aus dem selbstmitleidigen Virensumpf des Jammertals herauszureißen wagte, schmeckte nicht einmal der Champagner. Mein erstes Silvester in der Champagne und ich würde den Champagner nicht schmecken können! Frustration und Ungeduld gingen kurz an die Decke und bescherten mir gleich wieder einen heftigen Fieberschub. Ich versuchte es an zwei aufeinander folgenden Tagen , kleine Schlückchen trinkend, mit großer Hoffnung im Herzen, dass der Geschmack endlich zurückkehren würde. Aber die Sinne blieben weiterhin im Streik.
Also verbrachte ich auch Silvester mit Fieber, Hustentee, Decke und ohne Geschmack. Dafür aber wenigstens in liebevoller Gesellschaft, die mich elendes Selbstmitleidsbündel bis an die Grenzen meiner spärlichen Kräfte in Schach hielt. Mitternacht erlebte ich gerade noch mit fiebrig glänzenden Augen und hängenden Schultern.
Ich trank einen traurigen Schluck Mineralwasser ähnelndem Champagner, verbrannte mit letzten Energien am Fenster meine Herzenswunschliste 2016 und schlurfte kraftlos ins Bett.
Erst seit wenigen Tagen scheint der Geschmack wieder Stück um Stück zurück zu kehren. Fast so, als würde jemand Geschmackspapille um Geschmackspapille wieder anknipsen. Kaffee ist endlich wieder bitter, Chicorée auch, Tomate schmeckt wieder nach Tomate und sogar Salz ist wieder hervorzuschmecken aus dem Einheitsbrei. Kleine Fortschritte mit großer Bedeutung. Mein Honigeinsatz ging wieder drastisch zurück seit ich schmeckte wie süß der Tee war, nach welchem vorher mein Husten verlangte. Und auch die Nase kann mittlerweile wieder einen Kaffee von einem Tee unterscheiden und Pfefferminze von Kamille. Feine Gradierungen fehlen noch in meinem nuancierten Schmecken und Riechen, aber sie sind auf dem Weg zurück. Wird ja auch Zeit, schließlich waren sie nun wirklich lang genug in Urlaub.
Auch wenn meine Sinne einige Zeit abwesend waren, haben sie meine Wahrnehmung doch ungemein geschärft. Für das, was mir wichtig und unersetzlich ist, was mir gut tut oder mich schwach macht, was mich antreibt und was mich ausbremst. Statt dem Außen zuzuhören, lauschte ich also in mich selbst hinein. Ganz ohne Ablenkung von Geschmack, Geruch und Gehör erkannte ich langsam die Botschaft darin, verstand und akzeptierte sie.
Das Glück liegt nicht darin zu Silvester Champagner zu trinken.
Sondern darin, es an jedem Tag des Jahres tun zu können.
Ein paar kalendarisch festlegte Tage in Hülle und Fülle zu feiern ist ein so viel unbedeutenderes Privileg im Vergleich zu dem großen Geschenk, das ganze Jahr über lieben, leben, entdecken und genießen zu dürfen. Mein genusssüchtiges 2015 war so reich gefüllt mit Mut, Abenteuer, Umbruch, Wein und Champagner, genussvollen Momenten und erfüllender Freiheit im Herzen, dass weder ein leckereiengespicktes Weihnachtsfest noch ein champagnerreiches Silvester das hätte überbieten können. Ohne die Zwangsruhe im niemals anhaltenden Strudel der Ereignisse meines Lebens hätte ich das fast übersehen. Das Jahr wollte zu seinem Ende ganz einfach noch einmal ausgiebig anerkannt und gewürdigt werden bevor die nächsten Abenteuer wieder losgehen.
Die Sinne ahnten mal wieder mehr als der Verstand begreifen wollte.
Und sie sollten recht behalten. Kaum galoppierte das neue Jahr an, lud es in der zweiten Januarwoche gleich zwei große Geschenke vor meiner Tür ab. Ganz so, als würde es das ausgefallene Weihnachts- und Silvesterfest entschuldigen wollen. Beide Geschenke standen auf meiner Herzenswunschliste 2016. Es handelt sich nicht um eine Liste mit Vorsätzen, sondern um echte Herzenswünsche – diese kleinen Antriebsmotoren, die beim bloßen Gedanken das Herz zum glühen bringen und deren Magie sich weder Vernunft, Ratio noch der grobmotorische Verstand entziehen können.
Natürlich wurden sie nicht fix und fertig angeliefert. In den Geschenkkartons lag das Rüstzeug für Größeres, die Initialzündung zum Durchstarten. Die Verpackung beider Geschenke zeigt die glänzende Vision meines 2016, ihre beiliegende Gebrauchsanweisung liest sich gleichermaßen schnell wie auch unmissverständlich:
Mit Einsatz, Mut und Hingabe öffnen diese zwei Schlüssel 2016 alle Türen, die du noch verschlossen glaubst.
Der heftige Jahresendinfekt hat mich gerüttelt und geschüttelt, aber mit seinem Fieber auch alte Sorgen aus 2015 weggebrannt. Er hat mir vorübergehend Geschmacks- und Geruchssinn geraubt – zwei meiner größten Talente – damit ich ihre Bedeutung in meinem Leben aufs Neue schätzen lerne. Durch das kurzzeitige Abschalten des Hörens der Außenwelt hat er außerdem wieder eine Verbindung zu meinem tiefen Inneren hergestellt: zu meiner Intuition und Berufung, meinen Wünschen und Sehnsüchten, meiner ureigensten Stimme.
Es ist und bleibt absurd, dass wir Menschen den wahren Wert der Dinge oft erst dann erkennen, wenn sie uns abhanden kommen. Natürlich war ich wütend, enttäuscht und traurig über den Stillstand. Aber mit zurückgewonnen Geisteskräften muss ich zugeben: Das Abschalten von allen Kanälen – Telefon, Blog, Facebook und Instagram – sowie das Pausieren meiner reizüberfluteten Sinneswahrnehmungen und meines niemals freiwillig stillstehenden Lebens war so notwendig wie heilsam.
Jetzt weiß ich wieder, welches Feuer mit unauslöschbarer Flamme brennt, mich von innen heraus wärmt und seit Jahren antreibt.
Es ist dieses eine Feuer, dem ich 2016 all meinen Einsatz, all meinen Mut und all meine Hingabe schenken möchte. Ich will es anfeuern und befeuern. Es soll lichterloh brennen, Funken schlagen, sich vom Herz bis in alle Fingerspitzen ausweiten. Ganz ohne zögerliches Entzünden, zweifelndes Flackern und angstvolles Eindämmen.
Genau dieses Brennen wünsche ich auch euch für euer 2016. Dass ihr euren ureigenen Antrieb findet und erkennt, eure Talente versteht und annehmt und euch mit ganzem Einsatz, allem vorhandenen Mut und kompromissloser Hingabe eurer ganz persönlichen Flamme widmet. Auf dass euch dieses Jahr an Orte bringt, von welchen ihr vorher nur zu träumen wagtet.
Noch muss ich mich schonen, trage ich einen dicken Schal um den Hals und trinke Tee gegen die letzten Ausläufer des Infekts. Doch längst ist die Frustration darüber verflogen und ich bastle bereits hingabevoll am Bausatz meiner zwei ersten Geschenke. Heute Abend werde ich es sogar wagen wieder eine Flasche Champagner zu öffnen. Weil Sonntag ist, irgendein beliebiger Sonntag in diesem 2016, das ich dem Champagner und der Champagne widmen werde. Weil ich schmecke, rieche, höre, fühle, sehe – und lichterloh dafür brenne, endlich alle Türen zu öffnen, die ich 2015 noch verschlossen glaubte.
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